Farbe – zwischen Fläche und Imagination

 

Das künstlerische Schaffen von Christoph M.?Gais weist seit seinen ­ersten Ausstellungen zu Beginn der 1980er Jahre bis in die unmittelbare Gegenwart [1997] eine kontinuierliche und schlüssige Auseinandersetzung mit den Gestaltungsmöglichkeiten und Wirkungsweisen von Farbe als ­flächen- und raumschaffendes Medium auf. Mit ihrer Suggestivkraft können die Farbe und der Farbauftrag vielfältige Funktionen im Spannungsverhältnis von Fläche und Raum übernehmen und damit die grundsätzliche Frage nach der Bildwirklichkeit in der Malerei aufwerfen.

 

Die 1980 realisierte ›Arbeit in einer Berliner Wohnung (Fläche – Raum – Fläche)‹ – in der Ausstellung ›Neue Tendenzen der Zeichnung‹ 1981 durch eine Fotodokumentation vertreten – kann als programmatisch für die künstlerischen Vorstellungen und deren Umsetzung in der Malerei von Christoph M.?Gais betrachtet werden. Die Katalogabbildungen zeigen die für drei Tage in der Goethestraße 78 zu sehende Installation in zwei ­hintereinanderliegenden und durch eine Türe verbundenen Räumen. Die Stirnwände, von denen Gais die Tapete entfernte, tragen minimale künstlerische Eingriffe, nämlich verschieden lange, blaue und horizontal verlaufende Farbstreifen, die die Flächen in unterschiedlichen Höhen strukturieren.

 

In vier wechselnden Ansichten setzt Gais die Farbbahnen auf der vorderen und auf der hinteren Wand optisch miteinander in Beziehung. Aus der Art und Weise, wie er die Farbstreifen einander zuordnet, ergibt sich die jeweilige Bildstruktur, die dann auch den Eindruck von Statik und Dynamik, von Offen- und Geschlossenheit sowie von Flachheit und Tiefe bedingt. Der spielerische Umgang mit den Bildelementen, die teils von der Fläche in die Tiefe, teils von der Tiefe in die Fläche zu springen scheinen, macht dem Betrachter die Struktur seiner Wahrnehmung bewusst. Das Bild auf der Netzhaut, das dem Anschein nach der Raumkonstellation widerspricht, irritiert und bestätigt zugleich die Sehgewohnheiten. Raum wird zur Fläche und Fläche simuliert Raum.

 

Nach weiteren ortsgebundenen Installationen schafft Gais ab 1983 ­dionysisch-expressive Farbräume. Die großformatigen Gemälde bewegen sich zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion und verraten eine spontane malerische Aktivität. Heftige Farbsetzungen, ausgeführt und bearbeitet mit Spachtel, Pinsel, Bürste, Messer und Gabel, zerfurchen das Bildfeld und fahren wie entfesselte Energiebündel durch den Bildraum; sie fegen auseinander, vollziehen Richtungswechsel und rasen aufeinander zu, so dass das ständige Pulsieren und die Turbulenzen die Grenzen des Aktionsraums zu sprengen scheinen. Die Reduktion der Palette auf Weiß-, Schwarz- und Grauwerte schafft härtere Kontraste zwischen den Bildelementen und damit auch eine ausgeprägtere Raumillusion.

 

In diese gestisch-subjektiven, emotional aufgeladenen Farbkontinuen arbeitet Gais ab 1985 gemalte geometrische Formen wie Quader, Kugel, Zylinder und Kegel ein. Sie erzielen zwar eine gewisse Stabilität bzw. Beruhigung in der Komposition, lösen aber zugleich auch eine gewollte ästhetische Störung aus: Die Gegenstände, die der Betrachter als vor der malerischen Substanz schwebende Teile erfasst, sitzen nicht auf der ­Farbmaterie, sondern gehören einer tieferen Malschicht an; Gais schneidet die Umrisse der dreidimensional erscheinenden Körper aus der ­pastosen Farbmasse heraus und spachtelt ihre Darstellung flächig in die ­Hohlräume hinein, so dass sich die faktische Gestaltung und die visuelle Verortung von Vorder- und Hintergrund genau umgekehrt zueinander verhalten. Die Konzeption, die gemalten Objekte zwei unterschiedlichen, einer tatsächlichen und einer imaginären Ebene zuordnen zu können, erinnert an die frühe Installation ›Arbeit in einer Berliner Wohnung ­(Fläche – Raum – Fläche)‹ von 1980.

 

Aus dieser Schaffensphase heraus entwickelt Gais seit 1989 eine neue Werkgruppe. Die Gebilde beginnen zu verschwinden und stattdessen schälen sich aus den breit und vehement angelegten Farbbahnen lineare Strukturen heraus. Direkt mit der Tube aufgetragen, sitzen sie reliefartig auf dem pastosen, breit hingespachtelten Farbgrund, bilden sie Farb­spuren von kantigem, gequetschtem und nervös-bewegtem Charakter. Auf ihnen fängt sich in Form von Weißhöhungen das Licht, so dass sie mehr und mehr die primäre Vordergrundgestaltung im Bild übernehmen. Der Hintergrund beruhigt sich insofern, als dass breite gespachtelte Farbbahnen eine dichtere und homogenere Raumstruktur ergeben, und die ganze Vehemenz der ehemals eruptiven Farbverläufe sich nun in dem Gespinst einer fortlaufenden oder immer wieder neu ansetzenden, meist schwarz gehaltenen Ölzeichnung konkretisiert. Dabei bleiben die ­Arbeiten ganz stark auf sich bezogen und drängen nicht mehr über die Bildgrenzen hinaus; einzelne Gemälde versieht Gais sogar mit einer ­inneren Rahmung und verspannt sie so als Bild im Bild. ln diesem Feld vollführen die ­graphischen Lineaturen ein Eigenleben, lassen gleichsam eine gestisch-ab­strak­te Arabeskenschrift entstehen, die das gesamte Bildfeld rhythmisiert und in Schwingung hält. An keinem Punkt der ­Komposition bleibt das Auge stehen, sondern folgt immer wieder den ornamentalen Bewegungen der gemalten Zeichnung.

 

Ab 1994 arbeitet der Künstler dann fast ausschließlich in Italien und der zusammenfassende Titel ›estratti volsinii‹ – daher die gleichlautende Bezeichnung der Ölgemälde mit ›E.V.‹ und durchlaufender Nummerierung – bezieht sich auf die neue Heimat des gebürtigen Stuttgarters und ­ehemaligen Wahlberliners, der seit 1992 in Torre San Severo bei Orvieto lebt und arbeitet. Die Hügellandschaft der Monti Volsinii, benannt nach der 264 v.?Chr. durch die Römer zerstörten Etruskerstadt Volsinii, bildet den nördlichen Kraterrand des Lago di Bolsena – eine Region, die reiche kunst- und kulturgeschichtliche Spuren der Etrusker, Römer und der italienischen Renaissance trägt.

 

In der neuen Umgebung bleibt Gais seiner Arbeitsweise treu und treibt Bildideen voran, die latent bereits in realisierten Werken vorhanden sind. Ausgehend von den Linienbildern entstehen zwei neue Bildtypen – die Raster- und die Punktbilder. Statische Gefüge aus unregelmäßigen oder gleichartigen Rechtecken, die die gesamte Bildfläche überziehen und strukturieren, kennzeichnen die Rasterbilder. Dagegen zeigen die Punktbilder, gestalterisch aus den Schnittpunkten der Raster hervor­gegangen, entweder eine serielle Reihung oder eine beliebige, flächen­deckende Verteilung von Pinseltupfen. Bei der Entstehung der neuen Werke scheinen auch – ähnlich wie schon in den 1980er Jahren, als das turbulente und ­hektische Leben der Großstadt Berlin sowie die intime Atmosphäre des dortigen Ateliers das Erscheinungsbild seiner Gemälde mitbestimmten – wieder Anregungen aus dem unmittelbaren ›Lebenskontext‹ in die Bildwelt miteinzufließen. Eine afrikanische Skulptur aus der Sammlung von Masken und Figuren des Künstlers könnte den Anstoß für die weißen Punkte auf dem Gemälde ›E.?V.?III‹ bzw. für die weißen Kreisflächen auf dem Gemälde ›E.?V.?VIII‹ gegeben haben und die Lineaturen aus teilweise weißgehöhter Farbe auf dem Gemälde ›E.?V.?IX‹ könnten durch Reisen in die Bergwelt der nepalesischen Himalayaregion oder durch Wanddekorationen alter ­Kirchen und Paläste aus der Umgebung von Orvieto angeregt sein.

 

Auch wenn die ›estratti volsinii‹ weder naturalistische noch abstrahierte Landschaften darstellen, häufen sich bei eingehender Betrachtung der Gemälde Assoziationen, die sich mit der kunst- und kulturgeschichtlich reichen Landschaft um Orvieto in Verbindung bringen lassen. Die rotbraunen Töne der vulkanischen Erde und der Gehölze, das silbrige Grün von Olivenbäumen, die Rasterstrukturen archäologischer Siedlungen oder die Farbigkeit und Ornamentik der Architektur und Innenraum­dekorationen scheinen in seinen Arbeiten mitzuschwingen.

 

Außerdem hängen die Erweiterung und Aufhellung der Farbskala mit der südlichen Klima- und Lichtsituation der umbrischen Landschaft ­zusammen: Zarte Komplementärkontraste oder sogar kräftig leuchtende Farbwerte setzen neue Akzente und schaffen den für Gais typischen bewegten Farbraum. Und selbst das nach wie vor Krude im Umgang mit der Farbe, Kraftvoll-Ungestüme in der Gestaltung der Form und Heftige in der Gestik findet in dem kargen, einfachen und rauhen Leben auf dem Lande seine Entsprechung, so dass die ›estratti volsinii‹ ein sehr komplexes, durch die Region beeinflusstes und geprägtes Lebensgefühl widerspiegeln.

 

Unverändert dagegen bleiben in Italien die Arbeitsweise und die gestal­terischen Prinzipien von Christoph M.?Gais. Nach wie vor legt er seinen Kompositionen Strukturen zugrunde, die sich durch gegenläufige, ­konträr zueinander stehende Formulierungen und Wirkungszusammenhänge auszeichnen: ein flächig ausgebreitetes Raster liegt über einem farblich mehrschichtigen Tiefenraum; lineare Farbverläufe überlagern malerische Partien, ein flächiger Farbauftrag antwortet einem pastosen; eine schwarze Malfläche fordert eine weiße Zeichnung, konstruktive Malerei provoziert intuitiv-gestische Malerei; statische Bildelemente kontrastieren mit dynamischen und ein warmer Tonwert klingt neben einem kalten. Derart widerstreitende und sich gegenseitig steigernde Kräfte setzt Gais zum Teil in ein solches Spannungsverhältnis, dass sich die verschiedenen Strukturen abzustoßen scheinen und sich regelrecht ein Raum zwischen Vorder- und Hintergrund auftut. Dadurch erfährt die Wahr­nehmung des Betrachters eine Irritation, denn seine Aufmerk­samkeit springt zwischen der vorderen und hinteren Bildebene hin und her, wohl wissend, dass sich die Malerei auf einer zweidimensionalen Fläche abspielt. Wieder stellen sich Parallelen zu der Installation ›Arbeit in einer Berliner Wohnung (Fläche – Raum – Fläche)‹ von 1980 ein, ­allerdings mit dem Unterschied, dass das Auge dort einen tatsächlichen, hier einen imaginären Raum zu überwinden hat.

 

Manfred Großkinsky

1997