Nord-Licht Süd-Licht.
Eine Saaldekoration von Christoph M. Gais.
I. Dekoration.
Für den Louise-Schroeder-Saal im Berliner Rathaus malte Gais 1997 vier Leinwandbilder.
Das Wort »Dekoration« wird im Deutschen oft verächtlich und abwertend gebraucht. Doch gerade im festlichen Gestalten von Räumen bestimmte sich europäische Malerei. Nun sind die Zeiten der Farnese und die bürgerstolzen Rathausprunkes des 19. Jahrhunderts Geschichte. Einen Saal 1997 im Berliner Rathaus mit Bildern festlich zu gestalten, verlangt sinnlich-kräftiges Farbbewusstsein.
Gais hat dieses Farbbewusstsein. Er lässt seine Bildflächen atmen, überformt sie im gestischen Duktus der instrumentalisierenden Farbschichten und Farbakzente. Auf kleineren Formaten erreicht er skizzenhaft Monumentalität; er kennt den Irrtum totalitärer Kunst-Anhänger, die Bedeutung einer Sache wüchse mit ihrer maßstäblichen Größe. Da Pathos ihm fern ist, gewinnen seine Bilder mit wachsender Größe innere Ruhe. Diese Ruhe ist keine schläfrige. Die vier Bilder sollen den Raum prägen – nicht mit demonstrativem Anspruch, sondern zurückhaltend. Darum reizte ihn die Aufgabe. Selten kann ein Maler gezielt für eine gegebene Situation arbeiten. Meist werden Bilder »ab Lager« an die Wand gehängt. Das führt zu beliebiger, oft willkürlicher Wirkung. Ohne sich aufzugeben, passte sich Gais ein und an. Er hatte freie Hand.
Der Louise-Schroeder-Saal zeigt die Baugeschichte des Rathauses: spätromantisch-italianisierend, die DDR-Zeit, Umbau ab 1990. An seinen Schmalseiten Fenster. Das Licht ist zurückgenommen, fast diffus; schon tagsüber gibt nur Kunstlicht gleichmäßiges Ausleuchten. An den Langwänden sechs Flügeltüren, supraportenähnliche Paneele darüber, zwischen ihnen vier hochrechteckige Felder. Sie zog Gais denen über den Türen vor: Bilder auf acht Flächen hätten den Raum überinszeniert.
Einer skizzenhaften Bild-Idee folgend, machte er das, was er für diesen Raum »angemessen« fand. Ob und wie es das ist, wird die Wirkung der Bilder zeigen, wird deutlich, wenn bei verschiedenen Gelegenheiten Menschen sich zwischen den Farbfeldern aufhalten. Gais will zurückhaltend den Raum prägen. Darum sind seine Bilder membranähnlich flächenfüllend in die von ihm übernommene Wandgliederung eingelassen. Sie umstellen kulissenhaft schließend den Raum und öffnen ihn gleichzeitig in anschaulicher Farbkraft, die nichts anderes als sich selbst darstellt. Ein dialektisches Ereignis, das jeder Besucher erleben kann und das in seiner Gegensätzlichkeit belebend offen bleibt.
II. Die Bilder, Teil 1.
Zwei Bildpaare einander gegenüber. Winterlich kühle Nord-Bilder auf der Nord-, spätsommerlich farbgefüllte Süd-Bilder auf der Südwand.
Jedes Bild misst 367 × 218 Zentimeter. Öl auf belgischer Leinwand. Die Farben sind teilweise in Öl angerieben; gelb – eine von Gais geliebte und mit Vorsicht gewählte Farbe – wird selbst gemischt. Gais braucht wenig Öl; das Pigment soll nicht schwimmen; die Bildfläche soll trocken, weder vertrocknet noch speckig stehen. Den grundierten Leinwänden werden lasierend, mal stärker, mal schwächer deckend, Schichten aufgetragen: Auf den Nord-Bildern vier zügig fast deckend übereinandergesetzte beige auf rot, auf den südlichen sind tastend gelb-rot über beige zueinander und überlappend geschichtet.
Malerei ist Flächenkunst. Sie war es immer. Der älteren gelangen illusionistische perspektivische Wirkungen auf der Fläche, die weggespielt wird. Neuere Malerei – seit Braque, seit Picasso, seit den Kubisten also – betont die Fläche und die Autonomie des Bildes. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose – heißt es bei Gertrude Stein; vergleichbar hat ein in den Kategorien der modernen Malerei erarbeitetes Bild nichts anderes als seine ihm eigene Wirklichkeit. Seine Bild-Kunst formuliert eine neue Sicht auf die Dinge. Sie ereignet sich parallel zum zeitgenössischen undogmatischen Denken. Karl Löwith zitiert in seiner Untersuchung »Paul Valery. Grundzüge seines philosophischen Denken« (1971) den Franzosen »Jede Sicht der Dinge, die nicht befremdet, ist falsch. Wird etwas Wirkliches vertraut, so kann es nur an Wirklichkeit verlieren. Philosophische Besinnung heißt vom Vertrauten auf das Befremdende zurückkommen, im Befremdenden sich dem Wirklichen stellen.«; Löwith folgert »Das Ergebnis eines solchen entfremdenden Blicks ist ein zwiefaches: er ist im Verhältnis zur gewöhnlichen Umsicht eine Art geistiger Abwesenheit oder absence und eben damit äußerste presence.« Und er kommentiert »Das reine Ich-selbst, das alles so-Genannte und schon Bekannte – es sei ein Baum oder eine Muschel, eine Brücke in London oder das Meer, Vögel oder auch die eigene Person – wie zum erstenmal erblickt und nicht bloß wiedererkennt, ist eine Funktion der äußersten Wachheit.« Paul Valery war kein Bewunderer des Kubismus. Doch ein gemeinsamer Epochencharakter verbindet sein Denken einem dem Prinzip Kubismus schöpferisch nahen malenden Handeln. Mit den Worten Carl Einsteins: »Der Weg vom Subjekt zur Gestalt ist nun verkürzt, da man einen subjektidentischen Gegenstand konzipiert, der vom Motiv kaum durchbrochen ist. Man verharrt innerhalb der Formbedingungen der Bildfläche; der Gegenstand wird dem Bildkörper geopfert.« Ziel ist »eine völlige Gestaltung des dreidimensionalen Erlebens zu einer tektonischen zweidimensionalen Form, wobei die Tiefennachbildung ausgeschaltet wird ... die gegenständlichen Übereinkünfte werden zugunsten stärkerer menschlicher Freiheit durchbrochen.«
Gais lässt Farben handeln. Indem er artistisch mit Farbwerten spielt, zeigt er »Moralität der Farbe«. Er erzählt keine Geschichten wie Alexander Calandrelli und andere draußen am Rathaus berolinensische, preußische, hohenzollernsche.
Gais gebraucht zwei Ebenen: Die eines die Fläche definierenden Grundes, mag er klar definiert, zum Beispiel als gemauerte Wand, mag er als diffuse Frucht- oder Blatt-Wand erscheinen. Darüber legt er gleichfalls plan ein offenes gekurvtes Rankenwerk. Dieses setzt an, bricht ab, hat unterschiedene Schwellkraft, ist so gut wie unfloral, obwohl Knospenkurven, kräftige Lanzettformen auftauchen. Gais nähert sich ornamentaler Struktur, also über den Bildrand endlos verlängerbaren Systemen; er reizt »Muster« aus, aber er unterwirft sich nicht ihrem Folgenzwang. Seine Bilder – und diese hier besonders – balancieren unangestrengt zwischen gebundenem Maß und frei bestimmtem. Kein Bild greift gestisch über seinen Bildrand. Es beginnt, es hört auf, stellt sich nicht dar als Ausschnitt eines endlosen Tapeten-Rapports. Gais komponiert seine ruhigen Bilder. Ihr Aufbau ist ohne Geheimnis. Er ist einsehbar. Die Strukturen wachsen eindeutig von unten nach oben, rechts und links sind bestimmt; die Bilder sind nicht – was Bilder anderer Maler durchaus sein können – drehbar.
Im Schnell-Schnell des Medien- und Internetzeitalters mag er ein Konservativer sein. Das Verfertigen viereckiger, ruhiger Öl-auf-Leinwand-Bilder erscheint eigentümlich anachronistisch. Doch solch künstlerisches Arbeiten ist nur scheinbar zeitfern. Es gewinnt Gegenwart, wird vital ein unverbrauchter Farbsinn berührt, den jeder Mensch erreichen kann. Gais ist das Gegenteil von einem Reaktionär, der in bequemer Malart botschaftssatte, auf allgemeine Zustimmung rechnende Lehren erzählt. Er gebraucht auf seine Weise am Ende des Jahrhunderts die Freiheiten des Malens, die an seinem Beginn und gegen totalitäre Unterdrückungen seitdem erarbeitet wurden. Seine Kunst fragt nicht, wie und ob sie volksverbunden ist. Sie ist da. Für jeden. Und dieser Saal ist ein öffentlicher Raum.
III. Malerpotential.
Mit welchem Gewicht und in welcher Reihenfolge auch immer – das gais’sche Malen lebt aus drei sich überlagernden Antrieben.
Der erste: Bilder, Farben faszinieren Gais seit er bewusst sieht. Er begann in Tübingen Kunstgeschichte zu studieren. Das war für ihn unbefriedigend. Er arbeitete als Galerist. Beides mag kopflastig, schwäbisch-vernünftig sein – warum auch nicht. Stärker für ihn waren unmittelbare Bild-Lust, ein sich Ausliefernwollen an Farben, das Ziel, eine Fläche im artistisch geordneten Farbleuchten zu einem vom Betrachter zu belebenden Gegenüber zu machen. Gais studierte an der Akademie in Stuttgart (K. H. R. Sonderborg), an der Hochschule in Berlin (Raimund Girke). Beide bedeutende Maler. Beide bedeutende Lehrer. Sie verpassten ihren »Schülern« nicht rezepthaft Dogmen. Ihre Beispiele lehrten – was Gais ohnehin ahnte/wusste – : Der Maler ist vor der Leinwand allein; ihn trägt, ihm hilft kein Kollektiv; er lebt in seiner Zeit; es gab und gibt andere Maler; er muss sich entscheiden, denn irgendwann – nach wie raschem, nach wie zögerndem Arbeiten auch immer – hat ein Bild »fertig« zu sein.
Gefühlsmäßiges sinnliches Sich-Ausliefern an Farbe, kalkuliertes bewusstes Malen sind für Gais ein Akt. Jenes lässt die Bilder aus der Hand im Arbeitsprozess wachsen, dieses schließt psychedelische Untiefen. Gais ist kein Vulkan. Weder schleudert, noch fetzt er seine Farben.Wohl gibt es Skizzen, auch für diese Bilder, doch 1-zu-1-Entwürfe, Kartons, sind Gais fern, sieht er als Hemmnisse. Gerade, daß auf der ersten Ebene der Bilder mit Kohle, Kreide eine kaum verbindliche Dispositionsskizze des Aufbaus angedeutet wird. Dann beginnt ein Spiel mit Farberscheinungen außerhalb aller linearer Konstruktion: Gais ist Maler, nicht Zeichner. Er »spielt« bis zuletzt, aber das finito ist für ihn endgültig. Das offene, gekurvte Rankenwerk der obersten Bildschicht ist diffizil, kleinteilig erarbeitet. Große Gesten fehlen. Es gibt knapp ausgreifende Schwünge mit dem Pinsel, der Bürste, Farbausdruck direkt aus der Tube. Darauf hier und da punkthaft gesetzte Weißhöhungen. Die verhältnismäßig kleinteiligen Schwünge addieren sich. Die einheitliche Bildstruktur ist Zug-um-Zug gebaut. Der Maler hat in einem das Ganze und seine Teile vor Augen. Das optische Bild auszutarieren, werden kurz vor Ende der Malarbeit probeweise kleinere Papierschnitte aufgesetzt, um zu sehen, ob das Bildganze ergänzende noch in Farbe zu setzende Akzente verlangt. Mikro- wie Makrostruktur erlauben gleichberechtigt Nah- wie Fernsicht auf die Bilder. Gerade in diesem Saal wird das deutlich. Die Wirkung der Bilder wäre verfehlt, müssten Betrachter aus der Ecke, in den Ecken von gegenüber und querdurch Pirouetten drehen, um die Bilder angemessen sehen zu können.
So wenig Gais mit Farbmassen wühlende Schlachten schlägt, so sehr liebt er schweres borkiges schründiges Farbrelief. Natürlich ist das lasierende schichtende Erarbeiten schon der ersten Bildebene mit dünnem Farbauftrag möglich. Gais will jedoch Widerstand auf der Malfläche, und so wird schon diese Ebene als leichtes Relief angelegt. Die farbplastisch gesetzten Schwünge auf der zweiten Ebene öffnen die Bildhaut weiter; sie sollen sich ähnlich einer umgekehrten Sgraffitozeichnung über den rauhen Grund der ersten »fressen«. Gais, der bei seiner Arbeit auch schabt, abkratzt, setzt das die Bildhaut überziehende Rankenwerk erhaben, positiv. Aus dieser farbmassenintensiven Arbeitsmethode eines Aufreißens, eines Zudeckens haben die Bilder folgerichtig ihren Reliefcharakter. Gais will nicht nur den eindringlichen, er will den eindringenden Betrachterblick. Glatte, glänzende Bildhaut spielte ihn zurück. Seine Bildflächen sollen wandähnlich fest-»stehen« und gleichzeitig soghaft Blicke einziehen. Gais setzt auf den Ereignischarakter und die Energie von Farbwerten. Darum meidet er Perspektivzeichnung, wie überhaupt jedes Zeichnen, jede Linearität. Seine Farbtiefen, seine Farbgewichte verzichten auf handfeste Illusion. Allein verzahnte farbkörperlich getragene Klein- und Großgliederung sollen herrschen. Also braucht der Maler Gais notwendig Farbvolumen. Das Üppige dieser Farbmassen erscheint nicht als sich in Völlerei verlierender Überfluss. Strenge der Bildarchitektur und Bewegtheit der Farbmasse halten sich die Waage. Aus den konzentrierten, im Kolorit sparsamen Ereignischarakteren der Farben spricht statt Überschwang malerisch verfasste Askese.
Zweite Herausforderung: In diese tragende, vom Maler erarbeitete Malerfahrung fließen Kunst-Kenntnis, das Kennen der Arbeiten anderer Künstler. Gais nennt drei für sein Bild- und Farb-Denken wichtige: Paul Cezanne, Pablo Picasso, Robert Delaunay. Seine Bilder zeigen das nicht unmittelbar. Cezannes Bildkunst ist aus kurzen entschiedenen Strichen gebaut, sie benutzt modulierende aber eindeutige Farbwerte, im Gebrauch der Farbmengen ist sie sparsam-dünn. Autonomie, Ereignischarakter des Bildes sprechen, das zwar an ein »Motiv« sich bindet, aber radikal quer zu ihm steht. Hier ist der entwicklungsgeschichtliche Drehpunkt, der Bild-Kunst als autonome artistische Größe von einer Bildtradition löst, die erzählt, die berichtet, die aus einem bildthemengebundenen Einverständnis zwischen Maler und Betrachter lebt. »Nicht um Abbilden, sondern um Bilden geht es ... Kunst wird von solchen angehimmelt, die hilflos fragwürdiger Autorität preisgegeben sind; wer ernsthafter sich mit ihr beschäftigt, erfährt bei einiger Unvoreingenommenheit ihre oft kindische Wirkungslosigkeit, so dass zu verwundern bleibt, wie eine Anzahl kräftiger Menschen von nicht exorbitanter Dummheit immer noch Kunst zu erzeugen versucht ... in der Kunst wird die Anschauung zum produktiven Moment, hierein wird die schöpferische Freiheit gelegt und damit wird Anschauung menschlich.« Malerei ist »notwendige Kritik der Anschauung und der Erbschaft« (Carl Einstein).
Dass Gais kubistische Kohle-Zeichnungen von Picasso schätzt, erscheint mir darum einleuchtend, wenngleich er weder zeichnet noch Geraden und Winkel kennt. Picasso erneuerte gegen die zentralperspektivische Erfindung den Primat der Bildfläche. Das radikale farbbezogene Sich-Beschränken von Gais auf die Realität einer zweiten Dimension (das Relief seiner Farbmassen beharrt ja gerade auf dem Flächenwert eines Bildes) öffnet dem Betrachterblick über dreidimensionale Konstruktion hinausreichende Betrachtungsweisen. – Bei Delaunay beeindruckt Gais, wie Räume und plastische Elemente Farberscheinungen werden; orphisches Denken, psychedelisches Schwingen sind ihm hingegen fremd. – Zu den Herausforderungen der Moderne treten – besonders seit Gais auch konzentriert in Italien arbeitet – das Studium von Bauplastik, von Boden- und Wandornamenten. Gemalte Wandornamente im Dom von Orvieto motivierten Gais zu Mustern seiner Bildgründe. Das Entdecken kompositorischer Zusammenhänge zwischen frühchristlichen aus der Antike abgeleiteten ravennatischen und frührenaissancistischen Wandgliederungen stürzte ihn in eine Art Glücksgefühl: Hier fand er unverbrauchte Bild-Gründe, die er sich selbständig aneignen, gegen die er malend anspielen konnte. Aufregend, wenn die flachen gemalten oder mosaizierten Muster reliefhaft auf spätantiken Säulen zitiert werden; aufregend, wenn sich reales Naturbild und abstrakte Geometrie überlagern. Denn er verarbeitet beides: Naturhaftes und Künstliches gehen in der Ordnung seiner Bilder auf. Darum greifen vor seinen Bildern Wörter wie »gegenständlich«/»ungegenständlich« nicht. Diese vor Jahrzehnten leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung – gerade im West-Berlin des Kalten Krieges zwischen Karl Hofer und Will Grohmann – ist ebenso (vielleicht sogar noch mehr) Geschichte wie die der Farnese oder die des schon genannten Bürgerprunks des 19. Jahrhunderts.
Dritte Herausforderung: Gais lebt auf dem Lande, wandert querfeldein. Als Landmann sieht er dies und das. Seine Bildwelt nährt sich nicht allein aus seiner Malerfahrung, aus seiner Kenntnis der Kunst dieses Jahrhunderts. Schründige Rindenverwindungen auf alten Nußbaum- oder Edelkastanienstämmen zeigen ihm sich variierende Muster; auf Quadermauerwerk, auf natürlichen Steilwänden aus Tuffstein findet er gleichmäßig/ungleichmäßig gekörnte und verfärbte ruhige rhythmische Strukturen: Die vulkanische seit Jahrhunderten intensiv bearbeitete Landschaft um den Lago di Bolsena, das intensive Licht über ihr finden sich – seit er dort arbeitet – als Elementarwerte in seiner Kunst.
IV. Die Bilder, Teil 2.
Auf den Bildern der Nord-Wand leuchtet Nord-Licht, auf denen der Süd-Wand Süd-Licht.
Dort brandige Rottöne, unterdrückte verhaltene Glut. Eine geplante entschlossene, fast architektonisch-mauerhaft wirkende Welt bestimmt unangestrengt drucklos die Bilder. Hier quellende Gelbtöne; mit rötlichen Lasuren über kaltem Gelb lässt Gais seine geliebte Farbe warm aufblühen. Gelassene vitale Stimmung. Kein barocker Überschwung. Fülle von südlicher Natur und Geschichte sind zurückgenommen; »der weiße leichte Staub der Mittelmeerländer ... die helle glückliche Asche aus zerbröckelnden Hermen und ermüdeten Aphroditen« liegen »atmend über Rosen und Oleander« (Gottfried Benn).
»Nord« und »Süd« wiederholen nicht das stilisierte nazarenische Germania/Italia-Bild Overbecks. Nord-Licht Süd-Licht sind keine Gegensatzpaare vergleichbar Guelfen Gibbellinen. Benns weißer leichter mediterraner Staub ist für ihn Gegenwelt zu einer deutschen, der weder die Sonne Homers noch der Glanz italienischer Renaissance strahlten, die »kahl und notdürftig wie die Pedenfelder von Fehrbellin« dahinlebt. Die Bilder von Gais stehen nicht für widerstreitende, sich ergänzende oder einander steigernde Ideenwelten. Er will allein aus Farbkraft eine Wand »kühl« und die andere »warm« erscheinen lassen, um diese Wände zu beleben und querüber Spannung in den Saal zu bringen. Dieser soll unaufgeregt schwingen.
Die beiden Bildpaare gegenüber – so unterschieden sie auch farblich klingen – sind in ihrer malerischen Findung einander gleichrangig. Kein Spannungsabfall hinüber oder herüber. Die malerischen Aggregate widersprechen sich von Wand zu Wand in ihren Tonwerten und sind dennoch gleichgewichtig. Der Saal bekommt keine Schlagseite.
Entsprechend ist auf seiner Wand jedes Bildpaar ausgewogen. Gais hatte zunächst an eine zwar geteilte, aber die Wandfelder übergreifende gestische Ordnung gedacht, dergestalt, dass ein Bildpaar zusammenfassend komponiert ist. Das gab er auf. Sei es, dass er die dann entstehende Monumentalwirkung scheute, sei es – und das dürfte den Ausschlag gegeben haben –, dass sein Arbeitsstil derart weitschweifende Gestik ausschließt. So sind nun jeweils zwei verwandte, aber selbständige Bilder nebeneinander.
Der Bildgrund der Nordbilder: kräftiges Altrosa, darüber gelb-graue ab- und ansetzende Pinsel-, Spachtel- und Wischzüge. Palimpsestartig erscheinen kleinteilig versetzt Mauerspuren. Falls Gais auf das opus reticulatum römischer Mauertechnik anspielt, ursurpiert er sie nicht transalpin am Limes für Germanien – wo allerdings sich auch Reste finden –, sondern er braucht sie schlicht als »Kulisse« für kühles Licht. Ein Tonwert verlangt den nächsten. Auf dem Bildgrund unauffällig bestimmtes Knospen: Aus im linken Bild von links unten nach rechts oben aufsteigenden sparsam parallel verschobenen weißgehöhten Linienfragmenten; die Rankenstruktur des rechten ist zerflatternd, nervös-offen formuliert. Die Triebrichtung geht hier ins Senkrechte, ein »gotisch« drängender Schub nach oben. – Zurückhaltende gleichmäßige blatt- oder fruchtähnliche Muster bauen in ornamentähnlichem Kreisen die Gelbgründe der Südbilder. Auf ihnen kräftige selbstgewisse und körperliche in sich verwirbelte Gitter. Überspachtelte, mit Hilfe von Schablonen hart gesetzte Weißflächen geben kontrapunktisch Spannung gegen den Bildgrund; sie widersprechen klar und kühl hemmungslosem triebhaften Überwuchern. Diese Bilder heiteren lebensvollen Süd-Lichtes malte unter seinem Atelierdachfenster Gais – wie er sagt – bei »blauestem Himmel, hellstem Licht« als das Haus bei Orvieto ringsum von anderthalb Meter hohen Schneemauern versperrt war. Cisalpin kann ein Lichthungriger sagen: Hier bin ich »froh! gedenk ich der Zeiten, | Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing, | Trübe der Himmel und schwer auf meine Scheitel sich senkte, | Farb- und gestaltlos die Welt um den Ermatteten lag« (Johann Wolfgang Goethe).
Bildgründe übergreifende Gitter-/Rankenformen bestimmen alle Bilder. Vertikalordnungen treten hervor; doch sie drängen nicht quellend über den Bildrand. Die Farben atmen »für sich«, »aus sich«. Nichts da von Hektik oder Appell. Filmisches Fließen/Gleiten sind ebenso wie impressionistisches Flirren oder pointillistisches Stakkato ausgeschlossen. Jedes Bild ist konsequent auf seine Fläche bezogen. Deren bündige ad-hoc-Formulierung, das jeweilige farbige Ineinander von Groß und Klein schließen Vergrößerungen/Verkleinerungen aus. Ausgeschlossen, dass Gais einen Entwurf »zoomen« könnte. So, wie jedes seiner Bilder eine nur ihm eigene Ökonomie hat, sind die vier Bilder als gedoppeltes Duett einander zugeordnet. Die beiden Bildpaare gebrauchen einander. Ein Trennen zerstörte raumbezogenen artistischen Zusammenhang. Denn wie das doppelpolige gais’sche Bilddenken einen Bildgrund gebraucht, mit dem der Maler arbeitet, um auf ihm ein lässig-gespanntes Farbgleichgewicht aufzubauen, sind auch Nord-Licht Süd-Licht zweipolig. Werden auf jedem Bildpaar zunächst elementare tragende Strukturen addiert, denen im Wechselspiel aufgesetzte/vernetzte Gegenformen Widerpart geben, so hängen die Paare im Saal zu einem szenischen Dialog gegenüber, der den Raum dazwischen für den Betrachter zum Erlebnisfeld macht.
Auf die Gais-Bilder möchte ich die Nietzsche-Sätze zu Bizet’s »Carmen« übertragen: »Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. ›Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen‹: erster Satz meiner Aesthetik ... Sie ist reich. Sie ist präcis. Sie baut, organisirt, wird fertig ... Ohne Grimasse! Ohne Falschmünzerei! Ohne die Lüge des großen Stils! – Endlich: diese Musik nimmt den Zuhörer als intelligent«...
Hermann Wiesler
1997