Die doppelte Malerei

 

Ist, was man gelungen nennen könnte, schon die Sache selbst, auf die’s an­kommt? Ist ein Kunstwerk eine ›aufgegangene‹ Patience? Ist ›geglückt‹ jener köstliche Zufallstreffer, wo der Autor noch mal Schwein gehabt hat – es hätte ja auch schiefgehen können? Kann man Zielsicherheit herbei­pokern? Nichts von dem kann heute noch gelten.

 

Früher? Vielleicht ja. Es gab Maler, und nicht die schlechtesten, die sich die Seele aus dem Pinsel malen konnten, auch wenn sie es teuer erkaufen und bezahlen mussten. Großer Vorteil: uneingeschränkte Wirkungsmöglichkeit, Direktheit und Unverstelltheit des spontan Gemeinten, ungefilterte Klarheit – alles kam über, nichts musste auf der Strecke bleiben – auf welcher auch?

 

Das waren natürlich noch paradiesische Zeiten für jedwede Sinnlichkeit: die des Machens und die des Betrachtens. Jene Malerei war kulinarisch, haptisch und ›lecker‹; die dicke Paste der Ölmalerei, man vermochte sie sich durch die Augen einzuverleiben wie Braten und Wein. Askese und Zurückhaltung wäre der erzwungenen Dürftigkeit der Arme-Leute-Küche gleichgekommen. Und ist denn Spiritualisierung oder Sublimierung nur durch Verzicht und durch allgemeines ›Weniger‹ zu erzielen? Das etwa waren die Anfangsfragen Gais’scher Malerei und seiner von ihm adäquat entwickelten Maltechnik. Jawohl, Technik; Malverfahren, etwa ›prima‹ und nicht lasurartig Schicht auf Schicht, das blieb für ihn zum Glück Handwerkszeug und nicht Vehikel zu einem Individual-Stil, den ein günstiger Kunstmarkt dann bitte auch zu patentieren hätte. Seine Malerei war immer reich; aber wie gefährlich diese Klippe war und ist, das beweist das Scheitern so vieler Hoffnungen hinter uns und um uns.

 

Hundert Jahre sind lang und viel – vielleicht sind sie aber auch nur ein kurzes Atemholen zwischen Erinnerung und Wiederkehr. Was vor hundert Jahren ermalt wurde, mag manchem schon archäologisch vorkommen, für andere kann es aber die entscheidende Schwelle zum Heute sein. Das gilt nicht nur für das ›Machen‹ von Malerei, es hat auch Gültigkeit für deren Betrachten. Wir sollten dieses Jahr [1992], mehr als wir es tun, den 100.?Geburtstag von Erwin Panofsky feiern, der die Kunstwissenschaft gründlich von Begriffen wie ›autonomes Genie‹ und also auch ›Stil‹ ­gereinigt hat. Was aber, nach dieser Befreiung, ist seither gemalt worden? Ob dick oder dünn, schnell oder langsam, erkennbar oder abstrakt, groß oder klein – eine neue und kaum gewohnte Inhaltlichkeit ist unübersehbar (oder sollte es sein).

 

Reicht der Verweis, dass Gais ein sinnlicher Maler ist und Chaim Soutine sein ›Großvater‹? Gais’ Malerei ist kein Wurf, der sich begabter Einmaligkeit verdankt; sie ist auch nicht sofort ›da‹ – auch wenn es so aussieht. Er lässt sich Zeit, bewegt sich nicht wie ein aberwitziges ›painting-shuttle‹ hin und her, blitzartig zwischen Finden und Machen, zwischen Sehen und ›Reinhauen‹. Die vermeintliche Eile und Fertigkeit ist geruhsam, ­aufgebaut, doppelbödig zwischen Aussehen und Sein, zwischen Präsenz und Utopie. Da sind nicht Pinselschläge gemalt worden (wie Hartung, Mathieu oder Lichtenstein), da sind die Pinselschläge eher schlagende Beweise für etwas Darzustellendes und also Dargestelltes. Und darstellbar ist nur Reales, das, was wirklich ist und nicht, was assoziativ womöglich mitschwingt, wenn man weiterspinnt, was auf der Leinwand dazu ­verführen könnte. Gais also, der Realist. Abstrakte Malerei – aber mit doppeltem Boden.

 

Die vehemente Malerei des Post-Faschismus in Europa, laut, schreiend, rülpsend und rauschhaft, dafür bestürzend und unter die Netz-Haut gehend, Malerei als Waffe und Dokument eigener Befindlichkeit – das ist nicht fortsetzbar oder weiter zu entwickeln, wenn man vom Spiegelbild zum ›Bild‹ vordringen möchte.

 

Auch Malerei als Kompositionsmethode oder Konstruktionsersatz, das hielt nicht lang. Und Realismus in seiner ideologischen Form, ›neu-sachlich‹ oder ›sozialistisch‹, das reichte auch nicht weit, galt allenfalls nur für die unmittelbaren Betreiber, nicht für denkbare Fortsetzer. Und die Surrealisten, sie allerdings haben es weit gebracht – bis zur vollständigen Form-Auflösung und dem In-Frage-Stellen schlechthin.

 

Ist aber realistisch nur, was auf dem Tisch liegt, was herumsteht, was notfalls auch fotografierbar wäre? Ist nicht, was im Kopf sich bewegt, auch real – Bildgesetze beispielsweise, Fragen nach Bild-Sinn und seiner Hintergründigkeit? Da beginnt es sehr ›gaisisch‹ zu werden; manche ­Bilder der letzten fünf Jahre [1987?–?1992] waren ihm vielleicht nicht klar genug, zu beliebig, und einzelne Bildelemente womöglich austauschbar. Er wollte es präziser, ohne malerische Freiheit aufgeben zu müssen. Zusätzliches begab sich, konkrete Räumlichkeit wurde definiert und ins Bild gesetzt. Verfestigungen, ohne einschnürende Verminderung des malerisch Gemeinten. Farbe konnte Licht bedeuten, aber auch ›vorne‹. Die klassische ›Raumscheibe‹ der Kubisten war wieder da, aber ganz anders, als es noch Willi Baumeister gemeint hatte. Und nun, wieder so doppelbödig wie schon früher, schlägt das Pendel zurück. Zurück? Nein, vorwärts, nur anders als vermutbar war.

 

Gais gibt sich nicht damit zufrieden, dass er malen kann; also malt er nicht einfach weiter und sich selber ständig ab! Aus der Malerei destilliert er, was ihr an ordnender Kraft innewohnt, und dieses Geflecht von ­Ordnung oder Komponiertem entwickelt er (im Kopf), überstülpt es dem Gemalten, legt es drüber, aber bettet es nicht bis zur Unkenntlichkeit wieder ein. Ein Bild wird zum neuen Bild, indem es quasi seine eigene Analyse – im Wortsinn – voran stellt. Es gibt keine gesondert entwickelten Netzwerke, die dann wie schmückende Häkeldecken auf den reinen Tisch der Malerei gebreitet werden – das Analysieren dessen, was geleistet ­worden ist, das wird zur Definition des insgesamt Gemalten. Die Verdoppelung von Malerei bleibt strikt erhalten und nicht ineinander verarbeitet. Die getrennten Ebenen der Bilder aber sind die gleiche Sache, nicht Frage und Antwort, nicht weich gegen hart oder malerisch gegen eher grafisch. Konkret werden bedeutet eben nicht Verarmung. Doppelte Malerei, durchdacht und aufgebaut, eindeutiger denn je, aber auch durchaus doppel­sinnig, formal und inhaltlich, ›Ikon‹ ja, aber nicht aus atelierferner Bedeutung, sondern aus Malerei selbst. Panofsky könnte sich freuen – aber wir auch.

 

Manfred de la Motte

1935 – 2005