Ornament und Versprechen

 

Nicht jeder Loos war ein Treffer, gerade dann nicht, als der Wiener ­Wüterich vom Verzicht auf das Ornamentale schlechthin einen Haupt­gewinn für die moderne Kunst und Architektur erwartete. Immerhin gemahnt einen der Urteilsspruch über ›Ornament und Verbrechen‹ aus dem Jahre 1908 zur Vorsicht, das Werk eines Künstlers in einen solchen Zusammenhang zu setzen. Dabei erlag Adolf Loos – wie jeder bemerken wird, der von seinem Text mehr als nur den sloganfähigen Titel gelesen hat – einfach einem in seiner Zeit verbreiteten Missverständnis von Entwicklung. Eines, das keine Volten und Metamorphosen kannte, sondern nur die Einbahnstraße – ob nach oben oder nach unten blieb um 1900 eine ­individuelle Entscheidung aus Dekadenzbefürchtung oder Zukunfts­optimismus heraus.

 

Gerade die zeitgenössische Industrie und Technik, die das Ornament Loos zufolge schon in einem ökonomischen Sinne zum überflüssigen Kostenfaktor machte, leitete schon bald ein diesbezüglich neues Kapitel ein. Erinnert sei an die Fliegerei, welche die Wahrnehmung eines von der Ackerbau-Geometrie künstlich überformten Landschaftsreliefs ebenso ermöglichte wie ein verwirbeltes Raumerlebnis der jähen Perspektivenwechsel und Sinneseindrücke. Das Streifenmuster des Art Déco, die Lichtrhythmik in unterschiedlichen Spielarten, ja sogar das ›Ornament der Masse‹ im Revuefilm bezeugen eine erstaunliche Frische des seriellen Dekors so kurz nach dem schrillen Abgesang. Das schillernde Verhältnis von Natur und Ornament, das mit der Übersetzung organischer Motive in Geometrie begonnen hatte, hat immer neue Nuancen gefunden. ­Schillernd heißt: zu allen Zeiten, auch in den Jahrhunderten einer Gleich­setzung von Kunst mit figurativer Naturwiedergabe wohnte der vermeintlich zweckgebundenen Kunst der Ornamentik ein subversives Bestreben inne, sich von ihrem Träger abzulösen, ein Formeigenleben zu begründen und an die Bildende Kunst die Frage zu stellen, was diese eigentlich bilde, indem sie abbilde.

 

Schon die antike Kunstliteratur, der die augentäuschende Imitation als hohes Gut galt, wartete mit diesbezüglich verstörenden Exempla auf. Der Maler Protogenes vermochte nicht, den Schaum vor dem Munde eines Hundes zu malen. Was ihm gelang, sah gemalt aus, nicht natürlich. Aus ›quälender Seelenpein‹, wie der Berichterstatter Plinius der Ältere den Anblick der leeren Fläche bezeichnet, rettete ihn ein mit Farbe gefüllter, auf die zu bemalende Wand geschleuderter Schwamm – action painting als Ausweg aus der Nachschaffenskrise. Ihre Bedeutung in unserem Zusammenhang erlangt diese Geschichte aber erst, wenn man sie mit einer weiteren vergleicht, dem ›Linienwettstreit‹. Hier unterlag jener ­Protogenes dem konkurrierenden Illusionismus-Virtuosen Apelles im Bemühen, die feinste Linie, den Grundbaustein der ornamentalen ­Geometrie zu zeichnen, jenseits derer nur noch die Hoffnungslosigkeit der Leere blieb. Im Ergebnis entstand ein gegenstandsloses Bild, dem die Über­lieferung höchste Verehrung über Jahrhunderte hinweg zuschrieb.

 

Es bedurfte des Befreiungsschlages der Abstraktion, dass ein Kunsthistoriker wie Henri Focillon im Jahre 1934 die Beziehung von Form und Inhalt, von Malerei, Skulptur, Architektur zum Ornament neu justierte, in einem vitalistischen Verständnis, das sich in dem Buchtitel ›Das Leben der ­Formen‹ ausdrückte. Die Theoriebildung des 19. Jahrhunderts hatte noch mit einer lehrbaren ›Grammatik der Ornamente‹ auf die um sich greifende Geschmacksunsicherheit reagieren wollen. Owen Jones’ einflussreiches Werk von 1856 verwies auf die Nähe zu Schrift und Kalligraphie nicht zuletzt aufgrund seiner Beschäftigung mit dem künstlerischen Vermögen einer abbildlosen Kultur wie dem Islam – trotz stupender Vielfalt von der Ornament-Literatur bis heute relativiert, indem das irreführende Wort ›Bilderverbot‹ eine religiös bedingte Ablehnung des Figurativen als Mangelkonsequenz erscheinen lässt und Bild und Abbild schlankweg ineins setzt.

 

Focillons offener Begriff der Form erlaubte ihm die Erkenntnis, dass das Ornament selbst in der elementaren Weise eines schlichten Striches aus dem Nichts einen Raum mit künstlerischer Daseinsqualität schafft und eine solche formale Ordnung die ›Ungebundenheit des Schöpferischen, seinen spontanen Charakter‹ überhaupt erst erlaubt. Die unaufhörlichen Hybridbildungen aus Fauna, Flora und Geometrie, welche die Ornamentik hervorgebracht hat, schaffen jene ›Labyrinthe‹ und ›Ritzen‹ (um ­Focillons Sprachbilder zu zitieren), in denen künstlerische Imagination heranwächst: ›über das Ornament spekulieren heißt über die Macht der Abstrak­­tion und die unendlichen Hilfsquellen der Einbildung speku­lieren‹. Im Ornament, so ließe sich abwandeln, liegt immer auch das Versprechen der künstlerischen Freiheit, nicht ihrer Einhegung.

 

Dies träfe auch dann zu, wenn die Malerei von Christoph M.?Gais im ursprünglichen Sinn ornamental wäre. Sie ist es aber nicht. Natur und Ornament haben eine Gemeinsamkeit: ihr Fortgang verläuft zyklisch und linear zugleich. Das gilt für die Natur im Verhältnis ihrer einzelnen wieder­holbaren Vorgänge zum evolutionären Prozess in seiner Gesamtheit. Es gilt aber auch für das in sich geschlossene Segment des Ornaments im Vergleich zur Unendlichkeit seiner Reihung. Diese Malerei aber ist anti­seriell, sie unterläuft die Berechenbarkeit des Ornaments und setzt seine Potentiale programmatisch frei – vor allem durch die Überführung in die ungewohnte Umgebung der Ölmalerei. Das ›Leben‹ des Ornaments verändere sich mit seinem jeweiligen Material, befand Focillon. Hier aber geschieht das genaue Gegenteil: Rhythmik, Anordnung, wechselnde Tiefen­schärfe, Schattenwirkung der geometrischen Formen, sinnes­täuschende Effekte lassen immer neue Eindrücke von Plastizität und Stofflichkeit aufscheinen, Erinnerungen an Stein, Holz, Gewebe, Kristalle, Mosaik, Keramik, Papier – wenn man will also durchaus illusionistische Wirkungen.

 

Es ist mutig, solche Bilder zu malen. Der gegenstandslosen Kunst, die nie gegenstandslos war, ist im Rückblick auf die 1950er Jahre sogar schon einmal Weltflucht vorgeworfen worden. Gewaltige Verpflichtungen ­werden der Bildenden Kunst teils aufgebürdet, teils von ihr selbst ­beansprucht – dass sie sich zu ›positionieren‹ habe, sei es zu Politik, Geschichte, Gesellschaft, Migration oder Ökologie (was etwas anderes bedeutet als Natur). Es mag für den Werdegang des Künstlers nicht unwichtig gewesen sein, dass ihm solches Denken während seines ­Studiums in den 1970er Jahren in einer intellektuell längst ausgezehrten Retrovariante schon einmal begegnet ist. Christoph M.?Gais positioniert nicht sich, sondern Kuben oder Rhomben im Raum. Vielleicht nennt ihn deshalb einmal jemand einen ›Formalisten‹. Er antwortet darauf mit der List der Form.

 

 

Bodo-Michael Baumunk

2012